„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern“. Diese Kritik von Marx an Feuerbach ist wohl eines der bekanntesten Bonmots der jüngeren Philosophiegeschichte. Heute hat es jedoch den Anschein, als müsste man dieses Verdikt erstmal wieder auf den Kopf stellen und sagen: „Es kommt darauf an, die Welt zu verstehen, bevor wir sie verändern.“ Welche Welt? Da ist neben der analogen Realität noch die digitale Welt der Social Media – und es ist leicht, sich in den Algorithmen dieses global verzweigten virtuellen Rhizoms zu verirren.
Wir sind seine kommunikativen Knotenpunkte und generieren Resonanz, die einen mehr, die anderen weniger; grelle Farben und laute Botschaften überwiegen; vor allem aber gibt es in dieser Realität keine festgelegten oder vorbestimmten Identitäten mehr. Die tragenden Säulen einer kulturellen Identität – wie Sprache, Schriften, Traditionen, Bräuche, Berufe, Familie und Gemeinschaft, Religiosität – erodieren zunehmend, klassische Hierarchien und strikte Ordnungen wie das Patriarchat verschwinden, flackern aber weiter als eine Art marodierender Chauvinismus.
Neue, unversöhnliche Ideologien entstehen und bekämpfen sich. Die politischen Extrempositionen und aktionistischen Bewegungen ziehen sich auf das zurück, was sie am besten können: Sie berufen sich auf die kollektive Identität. Linke und rechte Identitätspolitik buhlen dabei in den Social Media um Zustimmung. Die Töne sind schrill, viele Standpunkte schienen gestern noch grotesk. Wir haben in dieser Doppelausgabe verschiedenste Positionen versammelt. Den Schwerpunkt haben wir dabei auf eine Auseinandersetzung mit der konstruktivistischen Identitätspolitik gelegt.
Die Autor*innen analysieren Konzepte wie „kulturelle Aneignung“, „Critical Race Theory“ oder „Universalismus und Partikularismus“; sie beleuchten aber auch kritisch den identitätslinken Antisemitismus, Einschränkungen der Meinungsfreiheit und Kollektivschuldzuweisungen; aber auch die Trendwende einiger Länder hin zur Einschränkung emanzipatorischer Anliegen. Zentral für Kulturelemente war dabei die Frage: Welche dieser Forderungen driften in ein totalitäres Weltbild ab, und was ist es hingegen wert, weiterhin diskutiert zu werden?
Haimo Perkmann
