#122: Nichtarbeit: Bartleby & Co.

Ab etwa 1850 setzte sich in Europa die Ansicht durch, dass die Fabriksarbeiter, welche durch der Erfindung des elektrischen Lichts bis zu 18 Stunden am Tag arbeiten mussten, Freizeit benötigen, um zu regenerieren; so schossen im spätindustriellen Zeitalter plötzlich Freizeit- und Vergnügungsparks aus dem Boden; finanziert von Unternehmern, die zur Ansicht gelangt waren, dass erholte Arbeiter mehr leisten als erschöpfte. Ein Jahrhundert später, als die Arbeiterklasse als relevante Käuferschicht entdeckt wurde, folgten Shopping Malls, in denen auch Geringverdiener erstmals das Gefühl hatten, am Wohlstand zu partizipieren. Freizeit verhält sich also funktional zum Berufsleben und steht in klarem dialektischen Zusammenhang mit diesem.

Im Widerspruch zur Erwerbsarbeit als Legitimation unseres Status‘ als Citoyen steht dagegen die Muße. Müßiggang, Faulheit, Langsamkeit als Formen der Nichtarbeit werden seit der Spätromantik dem dekadenten Landadel (heute dem oberen und unteren Ende der sozialen Skala) zugerechnet. Sich Zeit nehmen bedarf in der ausklingenden Ära der „Zeit ist Geld“-Äquivalenz einer schöpferischen Rechtfertigung, etwa der Ausübung eines Kreativjobs. Und die „Kreativen“ werden immer mehr.

Während Freizeit als notwendige Regeneration betrachtet wird, steht der Müßiggang von Anfang an im zweifelhaften Ruf der Sittenlosigkeit. So musste sich der erste große Kritiker der Lohnarbeit, Paul Lafargue, nach der Publikation seiner Schrift „Das Recht auf Faulheit“ 1883 von seinem eigenen Schwiegervater, Karl Marx, den Vorwurf des proudhonisierten Stirnerianismus (MEW, 31) gefallen lassen.

In den 1970er Jahren entdeckte die Philosophie Herman Melvilles Bartleby und interpretierte die Nichtarbeit als Widerstandsgeste jenseits kollektiver Strömungen. Durch Phänomene der Verweigerung wie Hikikomori behält Bartlebys‘ Negation bis heute ihre diskursive Bedeutung.

Haimo Perkmann

 

Inhalt

Richard Steurer analysiert die herrschenden Konzeptionen von Arbeit und Nichtarbeit.
Gerd Sulzenbacher trug mit „Abere Winzer“ Prosa-Gedichte zur Kulturelemente 122 bei.
Künstlerin Ingrid Hora: im Gespräch über ihr neues Projekt „Freizeyt“.
Haimo Perkmann untersucht die ästhetische Übertretung digitaler Perfektion bei Arnold Mario Dall’Ò.
Von leisen Zwischentönen: Katrin Klotz spricht mit Autorin Anne Marie Pircher.
Martin Hanni unterhält sich mit Verleger und Übersetzer Michael Krüger über dessen neuen Erzählband. Zudem hat er ein Dossier zur Literaturhaus-Diskussion in Südtirol gesammelt, das Sie unten finden.

 

Kulturelemente 122

Kulturelemente Beilage 121-122

DOSSIER LITERATURHAUS IN SÜDTIROL

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