#120: Im Kino gewesen, geweint

Im Kino gewesen. Geweint. notiert Franz Kafka am 20. November 1913 ohne weitere Erklärung in seinem Tagebuch. Er lässt offen, ob es sich dabei um eine Form von Katharsis oder subjektiver Selbstreinigung handelt, bezeugt damit aber die Macht der bewegten Bilder, Gefühle in uns auszulösen. Diese Macht wurde von Anfang an erkannt und ist bis heute Gegenstand der Wissenschaft; nicht nur politisch und militärisch wird sie auf vielfältige Weise genützt. Dass sich Film zur Manipulation eignet, wussten bereits Vertov und Eisenstein. Auch das Hollywoodkino konstruiert unsere soziale Realität bis in den Alltag hinein mit und sorgt dafür, dass sich viele Europäer nach 100 Jahren Hollywood einem imaginären Konstrukt der amerikanischen Kultur näher fühlen als den eigenen Traditionen.

Film gehört aber auch zu jenen Kunstformen, die sehr viel kosten. Daher sind mit jedem Film unweigerlich große ökonomische Interessen verbunden. Bedeutet nun die wachsende Anzahl von Kinofestivals bei einer gleichzeitigen Konzentrierung der Produktion auf wenige Weltvertriebe auch wachsende Qualität oder steigt nur die Quantität der Unterhaltung? Zensur wird nicht von oben, sondern an den Kassen ausgeübt. Parallel dazu verwandelt die Überalterung des Arthouse Publikums den europäischen Autorenfilm in ein Rentnergenre.

Das Bewusstsein für Kunst hat im Film nie eine primäre Rolle eingenommen. Im Vergleich zum Vorrang der technischen Innovation ist es sogar rückläufig. Dieses Selbstverständnis ist in den Verlauf der Kinogeschichte selbst eingeschrieben. So gibt der Film (eingedenk maßgeblicher Ausnahmen) zunehmend dem Spektakel den Vorzug vor Kunst und Erzählung. Mit Rancière ließe sich sagen, dass der Film schon früh die Aristotelische Poetik verlässt und sich stattdessen wieder dem Mythos zuwendet.

Die andere Seite des Kinos findet sich in Festivals wie Locarno, in kleineren Filmfestivals wie jenem von Bozen oder dem Athener Moving Silence Eventzyklus, bei dem der Stummfilm im digitalen Zeitalter nicht als Vorläufer des Films, sondern als eine „andere Art des Kinos“ betrachtet wird.

Haimo Perkmann

Kulturelemente 120

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