„Von dichten Wäldern war die Welt ursprünglich überwuchert. Darin hausten wilde, rohe Giganten, ohne Moral und Religion. Es sollen asoziale Einzelgänger gewesen sein, die nichts anderes als den dunklen Wald kannten. Wie sie durch die Wälder trampelten glichen sie Fischen im Wasser, die den Wald vor lauter Bäume nicht erkannten. Eines Tages aber grollte es am Himmel und ein schreckliches Unwetter zog auf. Mit einem unglaublichen Krach schlug ein Blitz in einen Baum und dieser brannte aus, sodass eine Lichtung entstand. Erst dadurch erkannten die Giganten, dass es etwas jenseits des Waldes gab. Die Lichtung gab nicht nur den Blick auf den Himmel, sondern auch auf den Wald frei. Also griffen sie zur Axt, rodeten Lichtungen, errichteten Hütten und wurden sesshaft.“ So beschreibt der italienische Philosoph Giambattista Vico in seiner Scienza Nuova von 1744 die Menschwerdung der Giganten.
325 Jahre später, am 29. Oktober 2018, krachte es wieder am Himmel. Lange Zeit hat es nicht geregnet, die Wälder, Felder und Berge waren trocken. Aus dem Meer im Westen kam Vaia und stürmte über die Ostalpen. Die Menschen saßen in ihren von Stromausfällen betroffenen Häusern in Dunkelheit und hofften, dass ihnen der mit bis zu 200 km/h dahin fegen- de Sturm nicht die schützenden Dächer wegriss. Im Wald krachte und borst es. Wie am nächsten Tag die Sonne sich über die Berge schob, lagen allein in den italienischen Alpen 8,6 Millionen Kubikmeter Holz auf einer Fläche von 41.000 Hektar am Boden.
Wo einst Wälder standen, waren nun Lichtungen entstanden. Das Ökosystem Wald lichtet sich nicht nur in den Alpen. Lichterloh brennen immense Waldflächen, vom Amazonasbecken über Kalifornien und Sydney bis zur sibirischen Taiga. Ein Aufschrei geht durch die Welt. Graswurzelbewegungen entstehen und machen mit spektakulären Aktionen auf den Klimawandel und das Sterben der Wälder aufmerksam. Weltweit setzen sich Menschen dafür ein, dass der ökologische Raub- bau mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einge- dämmt und, wo möglich, rückgängig gemacht wird.
Unserem Ruf in den Wald ist vielfach geantwortet worden, sodass aus der ursprünglich geplanten Einzelausgabe die Doppelnummer 149/150 entstanden ist.
Hannes Egger / Haimo Perkmann
Download: Kulturelemente 149-150